#204

Meine liebe Melanie,

es ist September. Der erste Sonntag im September. Das Kindi hört gechillt Tonie-Box, der Mann chillt im Bett vor sich hin und der Kater hat das Sofa zum ausgiebigen Tag-Schlaf okkupiert. Ich setzt mich jetzt mit Dir hin und antworte auf Deinen letzten Brief. Der ist aus dem April. Time to catch up. Wie das kompakt angehen? Assoziativ, wies kommt. Wir sind umgezogen und leben uns auf dem Heidberg in Braunschweig ein. Das Kind ist in der Wackelzahn-Pubertät und benimmt sich echt wie ne Teenagerin. Emotionale Ausbrüche, ganz schön viel intellektueller Zuwachs und irrationaler Wildwuchs, zwei neue Backenzähne sind da, die unteren Schneidezähne kommen und einer wackelt gefährlich nah am Rausfallen. Das Zahnfee-Geschenk ist besorgt. Alles ist vollständig und fühlt sich trotzdem improvisiert an. Wir gehen zu Fuß, wir fahren Rad und Roller und Bus und Bahn und letztens habe ich mit dem zufälligen Blick auf die Benzinpreise gefragt, ob 1,76€ für Super jetzt gerade günstig oder viel sind. Ich weiss es nicht. Wie schnell ich das verlernt habe! Wahnsinn. Wir haben einen Kleingarten um die Ecke, den wir am 1. Oktober beziehen können. Und alleroberste Priorität: mich nicht stressen lassen von allen "Oh, das muss auch noch"s, die da warten. Fazit nach 1 Monat Braunschweig: Mehr soziale Interaktion als in 6 Jahren Delmenhorst zusammengenommen. Die Freundlichkeit und Aufmerksamkeit der Menschen in unserer Hood ist für mich bemerkenswert. Ich überlege gerade, was ich vermisse und weiss gerade nichts. Adelheide nehm ich im Herzen mit, so wie meine anderen Lebensstationen auch.

Gestern meine Sis besucht und eigentlich waren wir darauf eingestellt, ihr bei ihrem geplanten Umzug zu helfen. Was auch immer da im System klemmt, gepackt wurde nicht wirklich viel. Ich habe mich gar nicht richtig getraut, sie ordentlich auf den Pott zu setzen. Alles in mir schreit "Lauf, lauf weg aus dieser ungesunden Umgebung, du machst Dich kaputt." Und ich check nicht, wie sie das nicht sehen kann oder will. Oder da einen Preis bereit ist zu zahlen für die Aufgabe des Selbsterhaltes. Das beschäftigt mich, welche Knöpfe da bei ihr gedrückt wurden, dass sie dies bereitwillig so betreibt. Meine Mutter kam unangekündigt dazu und hat ihr dann die Leviten gelesen. Das war eindrucksvoll. Ich habe dann auch sagen können, dass ich mir Sorgen mache und nicht verstehe, dass sie die schlechtesten Umstände als etwas Sicherheit spendendes erlebt. Gruselig, da zuzusehen.

Und dann habe ich festgestellt, dass ich mein Bauchgefühl immer besser kennenlerne und mittlerweile in der Lage bin, zu benennen, was mir da hochploppt. Das macht mir innere Freiheit. Weil die Konsequenzen, die sich dann daraus ergeben eben nichts weiter sind als Konsequenzen. Wer meint, sich daran aufhängen zu müssen kann ich eh nicht beeinflussen. Hauptsache, ich bin weiterhin mit mir im Reinen.

Das Wetter ist ganz entspannt sonnig, wir gehen mal raus. Das Kind hat sich in eine Sonntagsklamotte geworfen und möchte ihren Bären mit dem Puppen-Wagen ausfahren. ("Mama, sehe ich wie eine Mutter aus?" Die Antwort kann doch nur beruhigend "Logen." lauten.) Liebste Grüße in den Westen der Republik, Maike

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